Vorwort

Vielleicht kommt dir das bekannt vor. Du ahnst nichts Böses und dann schlägt das Schicksal zu. Und von einer Sekunde auf die andere ist nicht mehr so, wie's einmal war ...

Warum hast du das zugelassen?

»Jürgen, ich bin fertig. Kommst du mal rein und gibst mir mein Handtuch?«

Mit sorgenvollem Blick betritt Jürgen das Bad. Er greift nach Käthes Handtuch, öffnet die Schwingtüren der begehbaren Dusche und reicht seiner Frau, die auf ihrem Duschstuhl sitzt, ihr Lieblingshandtuch. Es ist eins, das längst nicht so dick ist, wie seins.

»Hier, bitte. Soll ich dir helfen?«

»Noch nicht. Du kannst wieder rausgehen, ich rufe, wenn ich fertig bin. Dann musst du mir nur noch den Rücken und die Beine abtrocknen.»« Sie rubbelt mit dem Handtuch über ihre Arme. Als sie bemerkt, dass ihr Mann sie dabei beobachtet, findet sie das nicht so lustig. »Auf was wartest du denn? Nun geh schon, zugucken musst du mir nicht!«

Ohne etwas zu erwidern, verlässt er das Bad. Erst als er auf dem Küchenstuhl sitzt, denkt er darüber nach, was sich seit ihrer Krankheit alles geändert und verändert hat. Jürgen stützt seinen Kopf in die Hände und schließt die Augen. Und ehe er sich versieht, läuft er vor seinen geistigen Augen ein Film ab. Er sieht wie seine Frau im Garten rumwirbelt und in ihren Aktivitäten nicht zu bremsen ist. Er hört, wie sie ihn antreibt, wenn er rumtrödelt. Er hört sie meckern, wenn er mal wieder nicht den Müll getrennt hat. Und dann sieht er, wie der Krankenwagen vorm Haus hält und wenig später seine Käthe mitgenommen wird. Er sieht das Blaulicht und hört, was der Notarzt vermutet: Könnte ein Schlaganfall sein! Warten Sie die weiteren Untersuchungen ab. Er hört, wie er Gott anschreit: Warum? Warum hast du das zugelassen? Denke du bist …

»Ich bin fertig! Jürgen, kommst du bitte und trocknest mich weiter ab?«

Jürgen springt hoch! »Warte, ich komm ja schon!«

Eine halbe Stunde später sitzt Käthe frisch geduscht, gekämmt und chic angekleidet in ihrem Rollstuhl und strahlt ihrem Mann an. »Was würde ich nur machen, wenn ich dich nicht hätte? Danke, Jürgen! Danke, dass du mich und meine Launen mit so großer Geduld erträgst und dass du mich nicht ins Heim bringst.«

»Spinnst du? Du, ins Heim? Nee, nee! Solange ich dich versorgen kann, bleibst du bei mir. Haben wir uns nicht vor Gott geschworen: In guten wie in schlechten Zeiten? Obwohl …, auf unseren Herrgott bin ich stinksauer! Stocksauer, das kannst du mir glauben!«

»Lass gut sein, Jürgen! Es hätte mich noch schlimmer treffen können. Aber sieh mal, wir können uns unterhalten und lieben uns immer noch. Nur das ist wichtig für mich. Für dich auch?« Fragend und mit Tränen in den Augen schaut sie ihren Mann an.

Statt zu antworten, erhebt er sich von seinem Platz, geht zu seiner Frau, beugt sich zu ihr hinunter und küsst sie – lang und innig.

© Barbara Acksteiner / 2023